Uelzener Allgemeine, 27.1.2007
Gefängnis aus Angst
Selbsthilfegruppe für Schüchterne will Betroffene aus Isolation holen
Von Maren Warnecke
Uelzen. "Die ist immer so komisch." Das Getuschel hinter ihrem Rücken machte das Arbeiten zur Qual. Bis Tanja S. (Name von der Redaktion geändert) einfach nicht mehr konnte. "Ich habe dadurch meinen Job verloren", erzählt sie mit leiser Stimme und bricht in Tränen aus.
Tanja S. leidet unter Soziophobie, einer permanenten Angst, sich in der Öffentlichkeit zu blamieren. "Schüchtern, gehemmt" sind die Worte, die dem Volksmund bei Menschen wie Tanja einfallen. Julian Kurzidim versteht sie nur zu gut. Er ist selbst Betroffener. 2002 suchte er in Braunschweig nach Menschen, die ebenfalls ihre soziale Isolation verlassen wollten, und gründete die erste von inzwischen neun Selbsthilfegruppen in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt.
"Intakt" bietet Betroffenen die Möglichkeit, über den Leidensdruck des Alleinseins zu sprechen. Denn die äußere Zurückgezogenheit wird häufig von Außenstehenden falsch interpretiert: Man sei schwierig, nicht spontan, ängstlich oder gar hochnäsig und arrogant, erzählte Kurzidim von den häufigsten Fehlinterpretationen der Nichtschüchternen.
"Schüchterne sind eine unsichtbare Gruppe in der Gesellschaft. Um einen herum ist eine Mauer, das ist ein Schutz, aber auch ein selbst gebautes Gefängnis", umschreibt Kurzidim das Gefühl der Betroffenen. Ein einfacher Einkauf in einem Geschäft lässt den Schweiß ausbrechen. "Bloß nicht auffallen" ist ein immer wiederkehrender Gedanke. Tatsächliche oder fantasierte Konfliktsituationen werden möglichst umgangen, die eigenen vier Wände sind letzter Zufluchtsort. Andererseits werden Urlaub und Wochenenden als blanker Horror empfunden, sind wahre Angsteinflößer. Stottern, Depressionen, Herzrasen, Neurodermitis, Bluthochdruck und Magen- und Darm-Probleme sind nur einige Folgen der Kontaktangst. Dass dies alles Symptome einer Krankheit sind, "habe ich erst ein halbes Jahr nach Gründung der Selbsthilfegruppe erfahren", gibt Kurzidim offen zu.
Mit Kontaktangst wird jedoch niemand geboren. Negative Einflüsse in Kindheit und Jugend, wie beispielsweise der Verlust von wichtigen Menschen, der Arbeitsstelle, auch eine Abhängigkeit von dominanten Eltern oder Drogen können Auslöser sein. Irgendwann geht es nicht mehr vor und nicht mehr zurück. Noch glücklich nennen kann sich derjenige, der aus eigener Kraft Hilfe suchen kann. Wie Julian Kurzidim und Tanja S. "Schüchternheit ist nicht nur ein Defizit", kann der Begründer von "Intakt" inzwischen mit Selbstbewusstsein behaupten. "Wir können gut zuhören, nehmen Rücksicht, werden nicht gleich laut. Wir machen eben andere Erfahrungen. Das ist eine ,Schüchternen-Kultur'", sagt er mit einem leichten Lächeln.
Nun hofft Kurzidim, dass mehr Betroffene den ersten Schritt wagen und in die Selbsthilfegruppe kommen. "Traut euch! Ihr könnt mehr gewinnen, als ihr glaubt zu riskieren", ist er überzeugt.
Gruppe für Schüchterne
Treffen: 14-tägig donnerstags um 18 Uhr in den Räumen des Sozialpsychiatrischen Dienstes, Brauerstr. 12, in Uelzen (nächstes Treffen am 8. Februar).
Organisator: Julian Kurzidim, Telefon (05 31)3 49 65 18. E-Mail: intakt-ev(ä)schuechterne.org oder im Internet unter www.schuechterne.org
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