Salzgitter-Zeitung, 22.4.2015
Angstattacken begleiten den Alltag
Salzgitter-Lebenstedt: Eine Gruppe hilft Menschen mit Sozialphobie
Von Karen Fröhlich
Ein "Hans Dampf in allen Gassen" war er nie. Immer schon sei er ein wenig zurückhaltender gewesen, scharte nie eine Riesenclique um sich, machte lieber alleine sein Ding. "Ja, große Menschenansammlungen waren einfach nicht meins. Sie bereiteten mir Unbehagen", sagt Rolf [Nachname].
Damit ist der 57-Jährige nicht allein. Aber dass der Kontakt zu anderen Menschen ihm Angst macht, das unterscheidet ihn doch von der Masse. [Nachname] leidet unter Sozialphobie.
"Schon als Jugendlicher spürte ich die ersten Anzeichen", berichtet er. Der Boden unter seinen Füßen hat sich allerdings erst Jahrzehnte später geöffnet. Eine Zurechtweisung durch den Schichtleiter vor allen Kollegen war der Auslöser. "Ich fühlte mich abgrundtief elend. Am nächsten Tag meldete ich mich krank", berichtet [Nachname].
Es folgten neun Wochen Psychiatrie und die Rückkehr in den Betrieb - an einen anderen Arbeitsplatz. Das Entgegenkommen des Arbeitgebers war groß, es half indes nur begrenzt. Rolf [Nachname] war wieder mitten unter Menschen und blieb doch für sich. Er igelte sich ein. "Wenn in der Kaffeepause alle erzählten, hatte ich immer das Gefühl, nicht mitreden zu können. Ich schwitzte vor Unbehagen." Weil das niemand merken sollte, ging [Nachname] fünf Minuten eher in die Pause und nahm seine Tasse mit an den Arbeitsplatz. Auch im Privatleben machte sich die Angst breit. Manche Familienfeier fand ohne ihn statt.
Ein Rückfall ließ nicht lange auf sich warten. [Nachname] durchlebte zwei weitere Klinikaufenthalte und befindet sich bis heute in Therapie. Gesundheitlich geht es Schritt für Schritt voran. Seit zweieinhalb Jahren arbeitet [Nachname] nicht mehr in der Montage, sondern wieder als Schweißer. "In der Spätschicht, weil da weniger Leute sind." Dass sein Arbeitgeber ihn so langfristig unterstützt, sei ein Glücksfall.
Ein weiteres Glück hat sich der 57-jährige Familienvater selbst beschert. Nach einigen Wochen Bedenkzeit reagierte er auf die Einladung einer Selbsthilfegruppe in Braunschweig. "Als es dann so weit war, war ich sogar weniger aufgeregt, als ich dachte", berichtet [Nachname]. "Schließlich hatte ich im Hinterkopf, dass alle, auf die ich dort treffen würde, mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben, wie ich." Die Gruppe, dieser kleine, geschützte Übungsplatz, tat ihm gut. "Hier brauchte ich nicht mehr Versteck zu spielen." Warum er später trotzdem nach Salzgitter gewechselt ist? Die Antwort ist einfach: "Ich war wegen der Spätschicht und des langen Anfahrtweges häufig unpünktlich. Das war mir einfach zu unangenehm." Die Selbsthilfegruppe in Salzgitter trifft sich 14-tägig in der evangelischen Familienbildungsstätte in Lebenstedt. Hier ist, [Nachname] noch nie zu spät gekommen - und hat wieder neue Freunde gefunden. Rundum zufrieden ist er dennoch nicht. Die Gruppe ist mit vier Mitgliedern arg klein, acht sollten es schon sein. Besucher sind willkommen.
DIE TREFFEN
Intakt - Norddeutscher Verband der Selbsthilfe bei sozialen Ängsten
Treffen: 14-tägig um 19 Uhr in der Evangelische Familienbildungsstätte. Kattowitzer Straße 225, Lebenstedt. Das nächste Treffen findet am Freitag, 24. April statt. Ein Informationsabend mit Julian Kurzidim von Intakt ist am Freitag, 8. Mai, 19 Uhr.
Kontakt:Julian Kurzidim, (0531) 3 49 6518, intakt-ev@schuechterne.org, Internet: www.schuechterne.org
Leben wie im Gefängnis
Ein Psychotherapeut erklärt die Grenze zwischen Schüchternheit und krankhafter Scheu
Dr. Christoph Pelster ist Psychotherapeut in Braunschweig. Mit ihm sprach Iris Antelmann.
Wie entsteht eine soziale Phobie?
Bei vielen Betroffenen liegt eine deutlich gestörte Selbstwertentwicklung vor. Häufig findet man in den Biografien wenig einfühlsame, überkritische oder auch überfürsorgliche Eltern (sogenannte Helikoptereltern), die durch ihren jeweiligen Erziehungsstil eine gesunde Selbstwertentwicklung bei ihrem Kind massiv behindern. Darüber hinaus können auch traumatische soziale Erlebnisse in der Schulzeit wie etwa andauernde Hänseleien, ausgeprägte Mobbingstrukturen oder andere Formen sozialer Ausgrenzung die Entstehung einer sozialen Phobie begünstigen.
Wann ist die Scheu vor Menschen krankhaft?
Die Grenze zwischen Schüchternheit und einer krankhaften Scheu vor Menschen ist sicherlich fließend. Menschen, die unter einer sozialen Phobie leiden, können ihr Leben in der Regel nicht selbst frei bestimmen. Sie sitzen in einem "Gefängnis" von beinah allgegenwärtigen Ängsten, die häufig privat wie beruflich einen nur sehr eingeschränkten Lebensstil zulassen - es ist ein Leben "mit angezogener Handbremse". Meist findet sich auch ein ausgeklügeltes System von zahlreichen Vermeidungssstrategien, Betroffene sind mit der Verwaltung und Organisation des Vermeidungsverhaltens intensiv beschäftigt und in der Folge sozial oft vollkommen isoliert.
Wie kann eine soziale Phobie behandelt werden?
Selbsthilfegruppen spielen hier eine ganz herausragende Rolle: Betroffene können dabei in einem Klima von Wertschätzung und gegenseitigem Respekt erstmals wieder positive soziale Erfahrungen machen. Ergänzend können in einer längeren ambulanten Psychotherapie die Zusammenhänge der Ursachen aufgedeckt und bearbeitet werden, zudem erleben die Betroffenen in der Therapie häufig eine wichtige korrigierende Beziehungserfahrung. Zu einem späteren Zeitpunkt kann gegebenenfalls eine Gruppentherapie eine Weitere Entwicklung ermöglichen. Schließlich gibt es Kliniken, die spezielle Behandlungsprogramme und soziale Kompetenztrainings anbieten.
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