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AOK OnJob, 6/2017
Ich pack das nicht
Herzklopfen, Zittern, Angst vor anderen Menschen: SOZIALE PHOBIE ist eine Schüchternheit, die so extrem ist, dass sie nicht nur das private, sondern auch das Berufsleben beeinflusst.
Von Prem Lata Gupta
Als sie 17 ist, will sie Bundesfreiwilligendienst in einem Kindergarten machen. Doch Lea* hat ihren Job kaum
angetreten, als ihr Kopf und ihr Körper streiken: "Ich war völlig neben der Spur." Ihr ist übel, schwindlig, sie hat Bauchschmerzen. Als die Mutter sie zur Arbeit fahren will, "fing ich auf halber Strecke an zu weinen und zu zittern." Ein paar Tage wird sie krankgeschrieben, dann wieder Panik: Wenn sie an den nächsten Montag denkt, muss sie sich fast übergeben.
Martins Leidensgeschichte beginnt schon zur Schulzeit. "Wenn ich etwas vortragen sollte, hatte ich richtig Herzklopfen und wurde rot, ich konnte mich kaum noch konzentrieren." Er schwänzt, wenn Referate drohten, bei der mündlichen Abiturprüfung "war ich gar nicht richtig bei mir".
Ein paar Jahre später, als er berufstätig war, kam es noch schlimmer. "Da ging gar nichts mehr. Ich konnte nicht mehr arbeiten, nicht mehr schlafen." Depression, Zwangspause.
Heute ist er wieder im Job, dennoch: "Ich habe nach drei bis vier Stunden Konzentrationsprobleme und bin schnell erschöpft."
ANGST VOR DER ANGST
Jeder von uns kennt Aufregung vor einem wichtigen Ereignis. "Die Grenzen von Schüchternheit und sozialer Phobie sind fließend", erklärt Dr. Doris Wolf, Psychotherapeutin und Verfasserin des Buches "Ängste überwinden und verstehen". Doch der Leidensdruck bei einer sozialen Phobie sei sehr viel ausgeprägter: Betroffene sind in stärkerem Maß gehemmt und kontaktscheu. Sie verspüren häufiger körperliche Symptome. "Entscheidend", betont die Expertin, "sind die angstauslösenden Gedanken." Als typische Situationen nennt sie Vorträge halten, in Gegenwart anderer seine Meinung sagen oder unter Beobachtung telefonieren. Menschen, die an einer sozialen Phobie leiden, fürchten ständig, sich zu blamieren. Sie glauben, dass ihr Verhalten peinlich ist und dass andere sie ablehnen.
Dazu kommt die Angst vor der Angst. Körperliche Reaktionen wie Erröten, Zittern, Übelkeit, Herzklopfen, Durchfall, manchmal auch regelrechte Panikattacken führen dazu, viele Situationen zu vermeiden.
Nicht im Mittelpunkt stehen zu wollen, nicht aufzufallen - das bedeutet wenig private Kontakte, Isolation auch auf der Arbeit. Häufige Konsequenz: "Menschen mit einer sozialen Phobie wählen einen Beruf, der wenig soziale Begegnung erfordert. Sie verzichten auf Karriereschritte", so Doris Wolf.
Dabei gebe es durchaus Strategien, die Sozialphobiker ausprobieren und trainieren können. Die Therapeutin rät, ein Verfahren wie progressive Muskelentspannung oder Bauchatmung zu erlernen, denn "wir können nicht gleichzeitig Angst und Entspannung verspüren".
Statt sich mögliche Reaktionen der anderen auszumalen, sollten Betroffene andere Menschen bewusst um Rückmeldung bitten und fragen, wie man auf sie wirke. Ebenfalls helfe es, sich im Gespräch auf die Unterhaltung zu konzentrieren statt sich permanent selbst zu beobachten.
HOHE ERWARTUNGEN
"Extrem Schüchterne sind nicht sichtbar. Sie äußern sich nicht laut und sie zünden auch keine Autos an", sagt Julian Kurzidim, deshalb bekämen sie kaum Aufmerksamkeit. Er hat "intakt e.V." gegründet, einen Zusammenschluss von inzwischen neun Selbsthilfegruppen für Schüchterne und sozial Isolierte im norddeutschen Raum. Er selbst leitet eine Gruppe in Braunschweig. Zu den wöchentlichen Treffen kommen jedes Mal drei bis zehn Betroffene. "Es ist ein geschützter Raum", unterstreicht Kurzidim. Als eines der typischen Merkmale von sozialer Phobie nennt er übertriebenen Perfektionismus. Wer etwas schreibe, stelle so hohe Ansprüche an sich, "als ob es für eine Doktorarbeit taugen müsse". Er kennt die Angst vor Bewerbungsgesprächen, erst recht vor Assessment Centern. Er weiß um die geheime Verachtung von Sozialphobikern dafür, dass "es dabei nur aufs Plappern ankommt". Im Beruf würden sie deswegen Tätigkeiten bevorzugen, bei denen es mehr auf ihre fachliche Qualifikation ankomme und weniger auf ihre Redekünste.
Kurzidim ist ein Mann, der einem ins Gesicht sieht und dabei wirkt, als ob er gleichzeitig nach innen schaut. Auch er beobachtet sich selbst und wie er auf sein Publikum wirkt. Zum Beispiel bei einer Lesung, wenn er aus dem von ihm initiierten Buch "Der ängstliche Panther" vorträgt.
Darin erzählen Betroffene ihre Lebensgeschichte, beschreiben ihre Gefühle. Fortwährend notiert er: Hören ihm die Menschen zu, wann lachen sie, wann klatschen sie? Mit Mitte 20 war ihm bewusst geworden, dass
Sozialphobiker und extrem Schüchterne sehr dazu neigen, immer nur die eigenen Defizite zu sehen. Dabei könnte man es auch andersherum betrachten. Er hat die positiven Seiten der Schüchternheit formuliert. Es ist ein Mantra, das Wertschätzung ausdrückt. "Schüchterne denken nach, bevor sie etwas tun. Sie machen ihre Aufgaben gut. Sie nehmen Rücksicht auf andere."
EINE KETTE VON GEDANKEN
Warum es überhaupt zu sozialen Phobien kommt, ist nicht völlig geklärt. Inzwischen scheint es durchaus möglich, dass auch erbliche Faktoren eine Rolle spielen. Den einen einzigen Grund aber gibt es wohl nicht. "Genau wie bei anderen psychischen Störungen gehen wir von mehreren Faktoren aus", erläutert Professor Dr. Lydia Fehm von der Humboldt-Universität Berlin.
Die Psychologische Psychotherapeutin forscht und arbeitet seit Jahren zu dem Thema. Manche Erlebnisse scheinen die Entwicklung einer sozialen Phobie zu begünstigen, etwa eine Erziehung, bei der das Kind überbehütet wird und gleichzeitig häufiger Kritik ausgesetzt ist, sagt sie.
Die Expertin weist darauf hin, dass eine Therapie die Kindheit nicht ungeschehen machen kann. Vielmehr lohne es sich, zum Beispiel beim sogenannten Sicherheitsverhalten therapeutisch einzugreifen.
Die Betroffenen umschiffen alle scheinbar furchtbaren Situationen: Indem sie sich extrem gut auf Besprechungen vorbereiten, um ja nicht in den Verdacht zu kommen, eventuell inkompetent zu sein, indem sie auffällige Kleidung meiden, bloß um nicht aufzufallen. Fehm erzählt von Foren, in denen sich Userinnen intensiv darüber austauschen, welches Make-up am besten das lästige Erröten abdeckt. "Es spielen sich lange Gedankenketten in den Köpfen der Betroffenen ab, nach dem Motto: Wenn ich schwitze, halten mich die anderen für nervös. Wenn sie meine Nervosität sehen, halten sich mich für unfähig. Wenn der Chef mich für unfähig hält, stehe ich auf der Abschussliste.
Diese Spirale könnte zum Beispiel kognitive Verhaltenstherapie durchbrechen. Fehm nennt das Verhaltensexperimente: "Beispielsweise das starke Make-up mal wegzulassen, um festzustellen, ob es denn tatsächlich so schlimm ist, vor anderen rot zu werden. Oder statt beige und schwarz mal einen grünen Pulli zu tragen." Sie betont: "In 70 bis 80 Prozent der Fälle bringt eine Verhaltenstherapie deutliche Besserung." Als Faustregel auf die Frage, ob dies der richtige Weg sei, gelte: "Wenn übertriebene Ängste über Monate anhalten und das eigene Leben beeinträchtigen - weil man nicht mehr arbeiten kann oder denkt, das Studium abbrechen zu müssen, dann sollte man sich einem Psychotherapeuten anvertrauen."
*Name von der Redaktion geändert.
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