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NEON-Magazin, 12/2004
Sag doch auch mal was
Von Eva Lehnen
Julian, 28, Braunschweig: "Ich käme auch nicht auf die Idee, einfach eine Frau anzubaggern. Ich würde denken, dass ich sie belästige."
Linda, 26, Berlin: "Eigentlich bin ich gar nicht schüchtern. Ich gehe aus, lerne gerne neue Leute kennen, nur in diesem Seminar sitze ich da und traue mich einfach nicht, mich zu melden."
Tanja, 24, Hermsdorf: "Wenn ich andere beobachte, die so einfach mit Fremden reden, frage ich mich immer: Was redet ihr denn da? Was hat man sich mit Unbekannten zu sagen? Manchmal könnte ich das auch gerne."
Manchmal würde sie gerne im Supermarkt hinter der Kasse stehen und einfach nur Preisschilder über den Scanner ziehen. Keine Diskussionen, kein Sich-beweisen-müssen, einfach nur einen Job machen. Danke, der Nächste bitte!
Stattdessen packt Linda ihre Tasche für dieses eine scheußliche Seminar an der Uni. Alle tun sie so schlau da, kommen ständig mit "Diskursen", wissen alles über Marx und Aristoteles oder tun nur so. Linda weiß jetzt schon, wie es werden wird. Wie sie dann dasitzt, still und stumm, und wie wahnsinnig sie sich darüber ärgert. Schüchternheit - für die 26-jährige Berlinerin war das nie ein Thema. In der Schule haben ihr immer alle zugehört, ihre Meinung war wichtig. Eine Wortführerin, Schüchtern? Linda? Nie im Leben.
"Eigentlich bin ich gar nicht schüchtern. Ich gehe aus, lerne gerne neue Leute konnen - nur in diesem Seminar sitze ich da und traue mich einfach nicht, nich zu melden, Auch wenn ich gute Sachen sagen könnte, ich bekomme doch mit, wie meine Kommilitonen an die Decke starren, schnauben und stöhnen, wenn jemand was sagt, der nicht zu Ihrem Schlaukopf-Kreis gehört. Also sage ich lieber gar nichts und versuche stattdessen, gute Hausarbeiten zu schreiben. Eigentlich solls es ja umgekehrt sein, aber Kommilitonen können einen mehr einschüchtern als Dozenten. Ich würde gerne promovieren, kann mair auch gut vorstellen, selber mal zu lehven. Dann würde ich aber unbedingt dafür sorgen, dass jeder die Chance bekomm, sich im Seminar einzubringen."
Schlimm, das mit der Schüchternheit - gleichzeitig aber auch nicht. Dass wir in einer bestimmten Situation rot werden, kein Wort rausbringen und nervös mit den Fingern spielen, könen wir nicht beeinflussen. Es passiert einfach so. Die Schüchternheit schlummert im Körper, bei jedem Menschen. und ab und zu bricht sie aus, wie ein Virus, das uns umhaut. Bumms! Das kann im Job sein, an der Uni oder auf der Suche nach der großen Liebe. Die gute Nachricht: Jeden erwischt es! Dein unfehlbarer Professor kennt das Gefühl. dass ihm die Worte fehlen, dein Chef, der immer so selbstsicher scheint, und bestimmt steht auch der Bundeskanzler manchmal da und weiß nicht so recht, wohin mit sich.
"Gar nicht schüchtern, das gibt es nicht", sagt Martin Keck. Er leiter die Angstambulanz am Max-Planck-Institut in München. "Ich habe Patienten hier, sportliche, gutausschende Menschen, die allem Anschein nach vor Selbstbewusstsein nur so strotzen müssten, und dann stellt sich raus, dass sie an sozialer Phobie leiden." Natürlich ist nicht jeder, der weiß, wie es ist, wenn man keinen Ton rausbringt, gleich ein Phobiker. Einer, der solche Angst vor Menschen hat. dass er nicht mal mehr einkaufen gehen kann. Oder eine, die nicht arbeiten geht, weil sie denkt, dass sie sterben muss, wenn sie unter Kollegen ist. Soziale Phobie ist eine Krankheit, völlig übersteigerte Schüchternheit. Wegen der eigenen, der ganz "normalen" Schüchternkeit bekommen wir kein Attest. Sie nervt meinfach nur. Am meisten einen selbst.
Wenn Tanja an ihrem Schreibtisch sitzt, mit geradem Kreuz, fühlt sie sich sicher. "Im job weiß ich ganz genau, dass ich es mir überhaupt nicht leisten kann, schüchtern zu sein. Sonst würden mir hier alle auf der Nase herumtanzen", sagt die 24-Jährige. Tania ist Sachbearbeiterin im Jugendamt. Sie kann "Nein" sagen, bestimmt und deutlich. Wenn Tanjas Knie weich werden, dann steht sie meistens gerade auf einer Party, auf der sie sich zuerst an unbekannten Gesichtern vorbeischieben muss, bis sie die Gastgeberin gefunden hat.
"Ich denke dann immer, dass die anderen vielleicht gar nicht mit mir reden wollen, dass es die überhaupt nicht interessiert, was ich zu sagen habe. Woher soll ich denn wissen, ob meine Angelegenheiten so spannend sind, dass ich davon erzählen sollte. Oft denke ich, dass die anderen gar nicht mitbekommen, wenn ich mich mal zu Wort melde. Ich will mich lieber nicht einfach so in Gespräche einmischen. Lieber warte ich, dass jemand auf mich zukommt. Wenn mich jemand anquatscht, den ich nicht kenne, dauert unser Gespräch selten länger als zwei Minuten. Dann entsteht diese peinliche Pause, und ich gehe schnell mal Getränke holen oder aufs Klo. Wenn ich andere beobachte, die so einfach mit Fremden reden, frage ich mich immer: Was redet ihr denn da? Was hat man sich mit Unbekannten zu sagen? Manchmal könnte ich das auch gerne. Andererseits: Ich mag es, Menschen zu beobachten. Ich muss nicht mit jedem gleich ins Gespräch kommen."
Immer laut sein, immer lässig, muss ja auch nicht sein. Im Gegenteil. Schüchternheit kann das Leben erleichtern. Sie bewahrt uns davor, das Falsche zu sagen und uns peinlich zu benehmen. Bloß: Schüchterne laden sich oft zu viel Verantwortung für einen geschmeidigen Gesprächsverlauf auf. "Sie versuchen die Kontrolle darüber zu behalten, was ihr Gegenüber von ihnen denkt, obwohl das ohnehin nur bis zu einem gewissen Grad möglich ist", meint der amerikanische Psychologe Bernardo Carducci. Über 20 Jahre hat er die Verhaltensmuster zurückhaltender Menschen erforscht und ist zu einem erstaunlichen Ergebnis gekommen: in Wahrheit sind Schüchterne auf ihre ganz eigene Weise Narzissten. "Sie meinen, dass sie ständig von ihren Mitmenschen beobachtet werden, jeder ihnen zuhört und sie begutachtet. Schüchterne sind viel mehr mit sich selbst beschäftigt als mit anderen", sagt Carducci.
Seine Eltern haben ihm immer gesagt: "Mensch, Julian! Du musst dich eben mal durchsetzen!" Julian konnte diesen Ratschlag irgendwann nicht mehr hören. Als ob er selbst schuld wäre, dass er im Sportunterricht nicht so wild war wie die anderen. Dass er keiner von den harten Jungs ist, hat der 28-jährige Braunschweiger früh gewusst. So einer wollte er einfach nicht sein.
"Wenn sich jemand um den Ball prügelt, ist das reine Durchsetzungssache. Mir hat die Stärke dazu immer gefehlt. Ich bin extrem schüchtern. War ich schon immer. An der Uni bin ich nie auf die Idee gekommen, dass man sich mit den anderen auch mal abends treffen könnte. Nach den Vorlesungen bin ich meistens schnell verschwunden. Eine Bewerbung zu schreiben oder ein Vorstellungsgespräch zu führen, ist für mich richtig schlimm. Ich klappere dann zwar nicht mit den Zähnen, aber den Erfolgsdruck merkt man mir sofort an. Ich schaffe es einfach nicht, locker zu sein. so rüberzukommen. wie ich eigentlich bin. Dabei weiß ich, dass ich gut arbeiten kann und ich gut zurechtkomme, wenn man mir Eingewöhnungszeit gibt. Im Zivildienst haben die mich erst komisch angeguckt, und später hat meine Chefin gesagt, dass ich zu den besten Zivis dort überhaupt gehöre. Alleine auf Partys gehen ich mag das nicht. Wenn alle lachen und schmusen, spüre ich meine Defizite zu sehr. Aber ich habe meine engen Freunde. Die meisten davon habe ich in meiner Selbsthilfegruppe kennen gelernt. Ich käme auch nicht auf die Idee, einfach eine Frau anzubaggern. Ich würde denken. dass ich sie belästige. Meine erste Freundin hatte ich mit 23. Die ist allerdings zuerst auf mich zugekommen."
Dass die Schüchternheit bei Julian besonders ausgeprägt ist, hört man sofort. wenn man mit ihm spricht. Wie zögernd er antwortet, dass er keine Gegenfragen stellt. Auf der anderen Seite klingt es auch ein wenig stolz, wenn Julian sagt: "Eigentlich haben Schüchterne zu viele von den positiven Eigenschaften abbekommen. Sie nehmen einfach viel Rücksicht. Außerdem: Meine Schüchternheit erspart mir den Gruppenzwang und gibt mir Freiheit, mein eigenes Ding zu machen."
Wie schüchtern darf man sein? Psychologen meinen, dass die Grenze zum Ungesunden immer dann überschritten ist, wenn die Schüchternheit so viel Macht über einen hat, dass sie das Leben steuert. Wenn man gerne auf ein Fest gehen würde, dann vor lauter Angst aber doch zu Hause bleibt. Wenn man eine gute Präsentation vorbereitet hat, sich aber an dem Tag, an dem man sie dem Chef vorstellen soll, krankschreiben lässt. Wenn man faule Ausreden sucht, um vor anderen Menschen zu fliehen.
Es ist seltsam. Auf der einen Seite haben wir es zum Zeitgeist erklärt, viele Freunde zu haben, beliebt zu sein, erlolgreich im Job und auf gar keinen Fall langweilig. Gleichzeitig wird es aber auch immer leichter, sich vor dem Leben da draußen, vor sozialen Kontakten zu drücken: Onlineshoppen. Onlinebanking, Online-Videoverleih, alles automatisch, ohne mit einem Menschen sprechen zu müssen. Es klingt erstaunlich, ist aber eigentlich logisch, was Wissenschaftler herausgefunden haben: Wer im Internet seine eigene Homepage betreibt, mit vielen Fotos und langen Geschichten. ist keinesfalls ein Selbstdarsteller, sondern meistens jemand, dem es sonst, von Angesicht zu Angesicht, schwer fällt, sich darzustellen.
"Man muss dem Gehirn beibringen, dass nichts Schlimmes passiert, wenn man uber seinen eigenen Schauen springt, meint Martin Keck vom Max-Planck-Institut. Wer in besummten Situationen schüchtern ist, muss üben, üben, üben. "Warum nicht einfach mal munter draufloserzählen? Den meisten Menschen ist es doch auch egal, wenn sie dummes Zeug reden. Stört doch niemanden." Über sich selbst hinauswachsen, Mutproben wagen. Eigentlich ist es genauso wie bei Höhenangst. Die überwindet man nicht, wenn man die Haushaltsleiter ein paar Stufen hochklettert, sondern nur, wenn man mit dem Aufzug gleich ganz hoch auf den Olympiaturm führt. Schrecklich, diese Höhe, aber umso besser fühlt es sich an, wenn man sie ausgehalten hat. Die Wissenschaft jedenfalls ist auf der Seite der Schüchternen: Gehemmte Menschen sind Spätentwickler. Sie erreichen ihre Ziele im Leben genau wie die Zielstrebigen. Nur langsamer.
Auf www.neon-magazin.de
NEON-Link: Schüchternheit
Julian hat Wege gefunden, wie er mit seiner Schüchterneit klarkommt. Er betreibt die Homepage www.schuechterne.org und hat eine Selbsthilfegruppe gegründet. Hier schreibt er über seine Erfahrungen.
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