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Magdeburger Volksstimme, 30.6.2007
Gemeinsam aus der Isolation: Schüchterne treffen sich in einer Selbsthilfegruppe / Einfache Aufgaben fallen schwer
Ich habe vier Anläufe gebraucht...
Von Birgit Ahlert
Woran erkennt man Schüchterne? Meist gar nicht, weil sie so schüchtern sind, dass sie nicht auffallen wollen. Doch es gibt mehr als man denkt. Das weiß Julian Kurzidim, der in Magdeburg eine Selbsthilfegruppe für Schüchterne ins Leben gerufen hat.
Magdeburg. Er spricht langsam, gewählt, überlegt jedes Wort, ehe er es - vorsichtig - ausspricht. Schüchterne, sagt Julian Kurzidim, sind wie Schachspieler: Sie überlegen mindestens fünf mögliche Reaktionen, bevor sie einen "Zug" machen. "Doch dann ist der passende Moment oft schon vorbei", so der 30-Jährige. Und so kommt es, dass Schüchterne meist gar nichts sagen.
Das habe nichts mit zu wenig Verstand zu tun, sagt Kurzidim, imGegenteil"geradeintelligente Menschen neigen dazu, alles mehrfach zu überdenken, alle möglichen Auswirkungen abzuwägen." Und sensibel sind sie, machen sich stets Gedanken um andere, nehmen Rücksicht "auf alle, nur nicht auf sich selbst", sagt er. Der Mann, der dies von sich gibt, muss es wissen: Julian Kurzidim ist selbst extrem schüchtern. Er weiß aus eigenem Leben, was sich dahinter verbirgt. Schüchtern, sagt er, wird man nicht geboren. Auslöser sind vielmehr negative Erfahrungen. Oftmals im Kinder- oder Jugendalter. Die prägen am meisten. Mit jeder schlechten Erfahrung zieht man sich zurück, will nicht auffallen, keine Fehler machen, nicht "ausgelacht werden", das tut weh. Dann folgt ein Schritt dem anderen. Man traut sich nichts zu sagen, lässt es schließlich ganz, zieht sich in die Isolation zurück. Das geht bis zur Kleidung, möglichst unauffällig, "Modisches hat doch eh keinen Sinn ..."
Die äußere Zurückgezogenheit wird von anderen Menschen häufig falsch interpretiert: Betroffene gelten als schwierig, nicht spontan, ängstlich, als Einzelgänger oder werden sogar als hochnäsig und arrogant verkannt. Selten wird dahinter eine starke Sensibilität und der Leidensdruck des Alleinseins bemerkt.
Der schüchterne Julian Kurzidim jedoch traut sich in die Öffentlichkeit. Ein Widerspruch? "Nein", antwortet er, nach längerem Überlegen, "gerade weil ich schüchtern bin tue ich das. Es ist meine ganz private Therapie." Das erfordert Mut.
Schüchternen fällt es schwer, andere Menschen kennenzulernen. Geradeinderschnelllebigen Zeit finden sie kaum Gelegenheit, sich zu artikulieren. Unbemerkt von anderen stehen sie an der Seite, schweigend, ohne Freunde. "Das wollte ich nicht mehr", sagt Julian Kurzidim, "deshalb suchte ich über die Zeitung Leute, denen es so geht wie mir, die genau so anders sind".
Und siehe: Es gab regen Zuspruch! Kurzidium gründete den Verein "intakt" als Forum für schüchterne Menschen. Und die erste Selbsthilfegruppe. Motto: Gemeinsam aus der Isolation!
Frauen und Männer zwischen 20 und 60
Die erste Gruppe entstand in seiner Heimatstadt Braunschweig. Mittlerweile gibt es zehn in Sachsen-Anhalt und Niedersachsen, die elfte in Uelzen ist in Gründung, die nächste für Stendal im Gespräch. Mehr als 230 Betroffene gehen zu den Treffen. Frauen und Männer gleichermaßen, im Alter zwischen 20 und 60 Jahren. Aus allen möglichen Berufen.
Seit gut einem halben Jahr gibt es regelmäßige Treffen in Magdeburg. Jeden ersten und dritten Montag im Monat gegen 17 Uhr trifft sich die Selbsthilfegruppe in den Räumen der Kontaktstelle KOBES im Breiten Weg 251. Bis zu acht Personen finden sich ein, reden über ihre Probleme und Erfahrungen. Wer nicht reden mag, hört zu. Das Gefühl, nicht allein zu sein, stärkt. Gemeinsam werden Wege gesucht. Aufgaben sind dafür zu bewältigen. Dinge, die für andere Menschen ganz normal sind, Schüchternen jedoch unglaublich schwer fallen. Auf der Straße einen Unbekannten nach der Uhrzeit fragen beispielsweise. "Vier Anläufe habe ich gebraucht, bis ich mich endlich getraut habe", erzählt eine Frau. Herzrasen bekam sie und schweißnasse Hände, aber keinen Ton über die Lippen. Als es ihr schließlich gelang, war sie stolz. Ein erster Schritt.
Auch Julian stellt sich Aufgaben, zwingt sich, eine knallrote Mütze aufzusetzen. Er will mit dem Gefühl umgehen lernen, von "allen angestarrt" zu werden. Das dauert. "Eine schnelle 'Heilung' können wir nicht bieten", sagt er nüchtern. Aber unter Gleichgesinnten Selbsterkenntnis finden, Akzeptanz, Selbstbewusstsein, Freunde.
Die positiven Seiten der Schüchternen nutzen
Schüchterne sind eine Bereicherung für die Gesellschaft, sagt Kurzidim, "wenn man sie denn lässt". Denn die Probleme von Schüchternen sind eigentlich "übertriebene positive Eigenschaften": Sie denken nach, bevor sie etwas tun (leider zu viel, um es tun zu können). Sie sind auf Ausgleich bedacht, können gut zuhören. Schüchterne haben ihre eigene Kultur, philosophiert er, und dass die Welt von allen Kulturen etwas braucht. "Wir können unseren Teil beitragen". Wichtiges Wissen auf dem Weg zum eigenen Selbstbewusstsein.
"Wenn diese positiven Eigenschaften mehr geachtet werden würden, wäre die Welt ein bisschen besser", sagt der junge Mann und lächelt. Schüchterne zeigen ihre Qualitäten jedoch erst, wenn man sich auf sie einlässt und die Möglichkeit bietet, sich zu öffnen. Ihnen zu helfen heißt, ihnen Zeit geben. Zeit zum Denken, Zeit zum Sprechen. "Und eine zweite Chance", sagt Julian Kurzidim, "weil sie die erste Chance meist ungenutzt vergehen lassen".
Merkmale für Schüchternheit und Hilfsangebote
Zeichen für Schüchternheit sind, wenn...
... Ihnen im entscheidenden Moment oft das Wort im Halse stecken bleibt
... Sie immer wieder feststellen, dass Sie nicht richtig mitreden können
... Sie Schwierigkeiten haben, andere Menschen kennenzulernen, bis zum absoluten Rückzug in die eigenen vier Wände
Kontaktangst kann sich vielfältig auswirken, zu den Symptomen gehören:
- Herzrasen
- Magen- und Darm-Probleme
- Neurodermitis
- Kopfschmerzen
- Bluthochdruck
- Muskelverspannungen
Hilfe zur Selbsthilfe bietet "intakt", der Verband der Selbsthilfe bei sozialen Ängsten, Ansprechpartner für Schüchterne, Sozialphobiker, sozial Isolierte.
Gründe für Schüchternheit gibt es reichlich, u.a. Negativerfahrungen in der Kindheit oder als Jugendlicher, Verlust der Familie oder des Lebenspartners, Umzug in eine neue, fremde Umgebung, übermäßiges Arbeiten / Schichtdienst, Verlust der Arbeitsstelle, innere Ängste oder Depressionen ...
Die Selbsthilfegruppe Magdeburg trifft sich jeden 1. und 3. Montag im Monat ab 17 Uhr bei KOBES (Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen), Breiter Weg 251.
Informationen erhalten Interessenten (Schüchterne und Familienangehörige) auch über Tel. 6 20 83 20, per E-Mail magdeburg@schuechterne.org und im Internet: www.schuechterne.org
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