Selbsthilfe bei Schüchternheit und sozialer Phobie

 

Rundbrief Juni 2013

Titelseite

Inhalt:
   - Statistik der Buchverkäufe
   - Nachholrunde zum Preisausschreiben
   - Intakt in Helmstedt
   - Selbsthilfetag im Landkreis Konstanz
   - Studie zum Entscheidungsverhalten
   - Mit Scheu, Scham und Western-Hut
   - Vorteile von Schüchternheit?
   - Forschungsreise - Wir sind die Champignons

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50. Ausgabe
seit April 2005 in jedem geraden Monat

ZITAT

"Ick hab da een Problem:
Ick sollte ma wat schäm.
Ick schäm ma aba nich -
wat hälste nu von mich?"

Robert Gernhardt, Satiriker



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"Der ängstliche Panther" verkauft sich

Seit September 2011 ist unser Buch "Der ängstliche Panther" erhältlich. Nun liegen uns die Verkaufszahlen vor.
Wer das Buch nicht kennt: es ist vom intakt e.V. organisiert und im Projekte-Verlag Halle veröffentlicht worden. Es enthält eigene Erzäh-lungen von 18 Personen - Mitglieder unserer Selbsthilfe-gruppen und andere Schüchterne. Man bekommt es nicht nur bei Julian, sondern auch über unsere Internetseite und über den gesamten Buchhandel.

Nachdem der Verlag nun die Zahlen für 2012 vorlegte, kommen wir auf folgendes Ergebnis:

   

2011  

2012  

gesamt  

Verkauf über intakt e.V.  

43  

30  

73  

Verkauf über Verlag/Buchhandel  

64  

34  

98  

Verkauf über Guten-Morgen-Buchladen  

---  

5  

5  

Freiexemplare für Mitwirkende  

18  

---  

18  

Rezensionsexemplare  

1  

2  

3  

Vereins-Mediothek  

1  

---  

1  

Gesamt  

127  

71  

198  


Der Guten-Morgen-Buchladen im Braunschweiger Univiertel kooperiert mit uns und legt unser Buch auf seinen Präsentationstisch. Rezensionsexemplare sind Bücher, die von Verlagen kostenlos an Medien o.ä. abgegeben werden, damit diese eine Vorstellung veröffentlichen können.

Wir können uns streiten, ob 198 ein hohes oder ein niedriges Ergebnis ist. Einerseits hat der Verlag insgesamt 2500 Stück drucken lassen, andererseits ist Sozialphobie ein großes Tabuthema, was natürlich die Verkäufe reduziert. Vielleicht liegt ein Grund darin, daß es kein Ratgeberbuch ist und daher kein Versprechen der Art "ich kann dir helfen" ausstrahlen kann.

Finanziell ist das Buch für uns immer noch ein Zuschußgeschäft. Tantiemen für die Texte können wir den Beteiligten also noch nicht zahlen. Wenn wir nur noch unseren Restvorrat verkaufen würden, hätten wir am Buch 784 EUR Verlust gemacht. Das wären allerdings nur knapp 4 EUR pro Exemplar. Ein Preis-Leistungs-Vergleich zeigt, daß das wenig ist: achtseitige Infoheftchen zum Selbstkostenpreis von 30 Cent verteilen wir gratis.
Gelohnt hat sich das Buch also auf jeden Fall.

Und weil die Verkaufszahlen gern noch etwas wachsen dürfen, hier die Internetadresse zur Bestellung:
http://www.schuechterne.org/buchbestell.htm


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Nachholrunde zum Preisausschreiben

Im Preisausschreiben zum Motiv für Plakatwerbung waren die beiden Plätze der Nachholrunde (= 2. und 3. Preis gesamt) noch offen. Die Jury hat nun entschieden:
Der 2.Preis geht an Marcus vom Gesprächskreis Magdeburg, der 3.Preis an Christian aus der Gruppe Hildesheim. Sie dürfen sich über 50 bzw. 30 EUR freuen, die Gruppen über 30 bzw. 20 EUR für ihre gemeinnützige Arbeit. Herzlichen Glückwunsch!


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Intakt in Helmstedt

Seit November 2011 gibt es die Helmstedter Gruppe. Nach dem ersten Anlauf 2009 in Helmstedt eine Gruppe zu etablieren, der leider 2010 gescheitert ist, ist die heutige Gruppe ein kleiner Erfolg auf den wir stolz sind.
Wir treffen uns alle 14 Tage donnerstags in den Veranstaltungsräumen "Vera" des Paritätischen Dienstes. Anfangs herrschte ein großes Interesse, mit der Zeit hat es sich dann auf 5 Personen eingependelt die fest zur Gruppe dazu gehören und sich regelmäßig treffen.

Mittlerweile haben wir gemeinsam viele Höhen und Tiefen bewältigt. Wir treffen uns auch mal auf ein Eis und veranstalten Koch- und Spieleabende. Zur Zeit planen wir einen Grillabend und würden gern einmal eine andere Gruppe besuchen. Wir würden uns aber auch sehr über Besuch freuen.
(Kontakt: Günter E.)

Ein paar Worte eines "Bestandteils" der Helmstedter Gruppe:

So lange ich denken kann würde ich mich als schüchtern bezeichnen. In mir schlummern zwar viele andere Teile meiner Persönlichkeit, die ich aber meistens nur eher schwer präsentieren kann. Nach einer schwierigen Schulzeit und auch schwierigen Momenten in der Ausbildung (ich bin in der mündlichen Abschlussprüfung beim ersten Mal durchgefallen, nicht weil ich nichts wusste, ganz im Gegenteil, in mir war ohne Ende viel fleissig erworbenes Wissen. Nein, ich konnte dank meiner Schüchternheit einfach nichts sagen und daher blieb nur, mich durchfallen zu lassen.) bin ich danach etwas lockerer geworden, dank meinem damaligen Ehemann und meinen Kindern. Mit Kindern kann man sich nicht immer verstecken, man möchte ja, dass die sich was trauen und ihnen ein Vorbild sein.

Nach dem überraschenden Ende meiner Ehe ist es für mich wieder schwierig geworden, ich musste ja umso mehr in die erste Reihe und alles regeln, was mir mehr als schwer fiel. Ich fühlte mich einfach nicht wie andere und hab mich wie früher gewundert was ich eigentlich im Leben so tun soll, was an mir falsch ist. Im Oktober 2011 fiel dann in der Zeitung mein Blick auf die Einladung von Intakt zu einem Vortrag zwecks Gründung einer Selbsthilfegruppe. Ich hab mich sofort angesprochen gefühlt und den Bericht aufgehoben. Dann aber gedacht "ach nee, da gehst Du nicht hin" dann fand sich für den Abend kein Babysitter und ich dachte mir "siehst Du, dass Schicksal möchte gar nicht das Du da hingehst". Dank eines glücklichen Zufalls bot sich mir doch die Möglichkeit an dem Abend hinzugehen und ich bin sehr glücklich darüber. Ohne die Gruppe wäre vieles für mich nicht so gut gelaufen wie es ist.
Ich freue mich immer auf die Treffen und weiß einfach, da sind Leute die mich verstehen. Ich hoffe sehr, dass wir es schaffen, daß unsere kleine Gruppe (und die Gruppen in anderen Orten) bestehen bleibt und vielleicht auch anderen eine Stütze sein kann. Ich bin froh dass ich damals den Mut hatte zu dem Treffen zu gehen.

Gabriele Kraul-Thurau


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Junge Sozialphobiker auf der Suche nach einer Gruppe
Selbsthilfetag im Landkreis Konstanz verzeichnet große Nachfrage

Das Selbsthilfenetzwerk KOMMIT im Landkreis Konstanz konnte am 20. April 2013 im "Milchwerk" Radolfzell zum mittlerweile sechsten Selbsthilfetag einladen. 60 der 160 verzeichneten Gruppen präsentieren sich, daneben auch soziale Organisationen und Verbände sowie Formen aus der Gesundheits- und Pflegebranche. In der Form der bewährten Tischmesse hatten sich die Selbsthilfegruppen in langer Vorbereitung auf viele Gespräche und persönliche Begegnungen mit Menschen eingestellt, die aus eigener gesundheitlicher oder sozialer Beeinträchtigung den Weg zur unverbindlichen Kontaktaufnahme mit den jeweiligen Ansprechpartnern suchten. Unter anderem war auch die Selbsthilfegruppe zu Sozialen Phobien unter der Leitung von Dennis Riehle mit einem Stand dabei.

Umrahmt wurde der Tag von einem umfassenden Programm, das bereits am Vormittag Höhepunkte zu bieten hatte: Statt den üblichen Grußworten hatte sich KOMMIT entschieden, die anwesenden Persönlichkeiten zu einem Eröffnungstalk zu bitten. In seiner kurzen Begrüßung hatte Riehle als Sprecherrat des Netzwerkes auf die zunehmende Bedeutung der Selbsthilfetage hingewiesen: "In Zeiten einer Anonymisierung im Internet sind solche Veranstaltungen wie heute das bewusste Entgegentreten gegen die Verschiebung von Selbsthilfe in die digitale Welt. Menschen, die sich mit Handicaps an die Stände stellen, sich zu ihrer Beeinträchtigung bekennen und andere Betroffene mit offenen Armen zu Erfahrungsaustausch und gegenseitiger Ermutigung einladen, sind ein Zeichen dafür, dass Selbsthilfe in die reale Welt gehört". Das Thema wurde anschließend auch in Fragerunde mit drei Politikern eingebracht.

Warum sich Menschen mit Handicaps engagieren und am Miteinander teilhaben möchten, das versucht auch die Landesregierung in Erfahrung zu bringen. In der Engagementstrategie stehen unter anderem Menschen mit Behinderungen als eine wichtige Gruppe im besonderen Augenmerk. Deshalb hatte es sich Frau Dr. Angela Postel aus dem Landessozialministerium auch nicht nehmen lassen, dem Selbsthilfetag beizuwohnen und Personen zu interviewen, die mit ihrer Beeinträchtigung ehren-amtlich aktiv sind. In der Frage nach strukturellen Verbesserungen für die Selbsthilfearbeit regte Dennis Riehle an, die niederschwelligen Bindungsglieder wie Selbsthilfekontaktstellen und BE-Büros breitflächiger auszubauen. Er betonte zudem den veränderten Anspruch von Engagierten, für die freiwillig geleistete Arbeit auch zunehmend gehört werden zu wollen und als Basis verstärkt in politische Diskussionsprozesse integriert zu werden. Mehrfach wurden auch die bereits durch die neue Landesregierung beförderte Bürgerbeteiligung und das Prinzip der Partizipation gelobt. Während andere Gesprächsteilnehmer noch Nachholbedarf in der Umsetzung des Bürgerwillens sah, attestierte Dennis Riehle, dass durch den Gesundheitsdialog, die Gesundheitskonferenz und die Gremien unter Patientenbeteiligung bereits wichtige Schritte gelegt worden seien, um den Engagierten das Gefühl von Mitsprache zu geben. Er untermauerte, den Dialog zwischen Politik und Personen, die täglich mit der Realität konfrontiert seien, weiter zu stärken. Fragen, wie man mit einer zunehmend veränderten Selbsthilfe durch die Digitalisierung umgehe, wie man die finanzielle Förderung entsprechend anpasse oder gerechter verteilen könne und wie man gemeinsam der Überalterung im Ehrenamt begegnen und die Jugend vehementer und überzeugender für das Ehrenamt gewinnen wolle, sollten in gemeinsamer Anstrengung besprochen werden. Riehle spielte den Ball auch an die öffentliche Hand zurück: "Für mich sind Grenzen dort gesetzt, wo Ehrenamt Aufgaben übernehmen soll, die eigentlich zum staatlichen Leistungsauftrag gehören". Er ergänzte aber, dass jeder Engagierte seine eigenen Limits setzen müsse - es dürfe aber keine Mentalität einziehen, wonach beispielsweise der ausgelastete Therapeut seine Patienten nach Dienstschluss alternativ an die Selbsthilfe verweise. Frau Dr. Postel zeigte sich überaus angetan von den vielen Rückmeldungen. Sie versicherte, dass sie die Aussagen der Runde in die Arbeitsgruppen nach Stuttgart mitnehme.

Unterdessen erlebte der Gruppenleiter an seinem Stand besonders viele junge Hilfesuchende: "Es waren eine Menge ältere Schüler, Auszubildende und Studenten dabei, die einfach wissen wollten, ob ihre Schüchternheit schon krankhaft sei", fasste Riehle den Tag für die Gruppe zusammen. "Darauf konnte ich natürlich nur eine laienhafte Antwort geben - und dennoch zeigt dieser Eindruck auch ein Abbild der Situation in unserer Gruppe, in der mehr als die Hälfte der Sozialphobiker unter 30 Jahre alt ist". Darüber hinaus bedienten sich die meisten lediglich an den Flyern, ohne ins Gespräch zu kommen. "Das ist natürlich normal für Menschen mit einer schüchternen Persönlichkeit. Ich bin aber optimistisch, dass sich einige von ihnen im Nachhinein melden werden". Dennis Riehle verzeichnete auch zwei intensivere Gespräche, in denen Angehörige um Rat fragten: "Ich hoffe, dass solch ein Tag die Gelegenheit gibt, ganz unbedarft nach Hilfe zu suchen".

Ein körperbehinderter Besucher sprach kurz vor Ausklang des Selbsthilfetages von einem "beeindruckenden Zeichen von Engagement und Teilhabe", das die Veranstaltung gesetzt habe. Und auch das Resümee vieler Beteiligter fiel ähnlich aus: "Wir durften unsere Arbeit vorstellen und haben neue Teilnehmer für unsere Gruppen finden können", berichteten mehrere Selbsthilfevertreter.

Autor: Dennis Riehle, Sprecherrat und Selbsthilfegruppenleiter im Netzwerk KOMMIT / Selbsthilfegruppe Soziale Phobie im Landkreis Konstanz
Martin-Schleyer-Str. 27, 78465 Konstanz, Tel.: 07531/955401, Web: www.zwang-phobie.de


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Studie zum Entscheidungsverhalten

Liebe Mitglieder der Selbsthilfegruppen,

im Rahmen meiner Doktorarbeit im Fach Psychologie an der Universität Mannheim (Lehrstuhl für Klinische und Biologische Psychologie) interessiere ich mich für den Zusammenhang zwischen Persönlichkeitseigenschaften (z.B. Soziale Angst) und Entscheidungsverhalten. Die Ergebnisse sollen dabei helfen, neue Erkenntnisse über Soziale Angst zu erlangen. Auf Basis dessen sollen therapeutische Interventionen weiter verbessert werden. Und auch Sie können etwas über sich erfahren: als Dankeschön für Ihre Teilnahme bekommen Sie eine individuelle Auswertung Ihres Persönlichkeitsprofils.
Die Teilnahme an der Studie ist natürlich vollkommen anonym und dauert etwa 15-20 Minuten.

Interesse? Dann gehen Sie einfach auf den folgenden Link:
http://134.155.48.42/sosci/TruCo1/?r=18

Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie sich die Zeit nehmen und an der Studie teilnehmen würden. Nur durch Ihre Unterstützung und Mitarbeit ist es möglich, mehr über Soziale Angst zu erfahren. Gerne können Sie den Link auch an Freunde und Bekannte weiterleiten. Da ich Personen mit verschiedenen Persönlichkeitseigenschaften untersuchen möchten, ist das Vorhandensein von Symptomen der Sozialen Angst keine Voraussetzung für die Teilnahme. Falls Sie Interesse haben, informiere ich Sie nach Abschluss der Studie gerne über die Ergebnisse.
Ich freue mich über Ihre Teilnahme und danke Ihnen bereits vorab für Ihre Unterstützung!

Isabel Thielmann


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Mit Scheu, Scham und Western-Hut
Erlebnisberichte eines Sozialphobikers in freier Wildbahn

Teil 1: Von Selbsterkenntnis, Unsicherheit und negativen Erlebnissen

Soziale Phobie. Ein schweres Wort. Oder nicht? Soziale Phobie oder doch nur schüchtern? Das und mehr ging mir durch den Kopf, als ich im Februar 2012 zum ersten Mal in der Gruppe in Braunschweig war.
"Ich bin M... 22... und ich bin hier wegen sozialer Phobie... oder Schüchternheit" Irgendwas, was hier rein passt auf jeden Fall." So, oder so ähnlich lautete mein erster - mehr oder weniger zusammenhängender - Satz in der Gruppe.

Heute bin ich etwas älter und etwas klüger. Zum einen ist mir nun klar, dass die Grenze zwischen Schüchternheit und sozialer Phobie fließend ist; das bedeutet, sie ist de facto nicht existent. Zum anderen sehe ich nun, was meine Aussage wirklich bedeutet hat: Es war ein Ausdruck von Unsicherheit. Eben jene verborgene Unsicherheit, die einen schüchternen Menschen ausmachen kann. Unsicherheit kann zu negativen Erlebnissen führen und negative Erlebnisse können (gehäuft, aber auch schon einzeln) zu Ängsten führen. Ein "negatives Erlebnis" ist dabei nichts Objektives, viel mehr zeichnen diese sich oft dadurch aus, dass sie objektiv neutral sind. Im Extremfall sogar positiv. Der Betroffene interpretiert das Erlebnis einfach als ein Negatives. Das kann sehr problematisch werden, wie folgendes Beispiel zeigt:
9. Klasse, Realschule, Klassenfahrt. Ich muss um die 16 Jahre alt gewesen sein. Ein Nerd(→1) (damals sagte man noch Freak) und bedingt durch die sozialen Ängste relativ einsam. Gut, es gab da schon ein paar Leute, die ich als Freunde bezeichnen möchte, aber alles in allem?
Jedenfalls war es der letzte Tag der Klassenfahrt, ich hatte schon lange ein Auge auf ein Mädchen aus meiner Klasse geworfen. Hübsch. Ziemlich hübsch. Hat der Freak, der auch noch als arrogant gilt(→2) und das beliebteste Mobbing-Opfer der Klasse ist überhaupt eine Chance?
Na klar, Schüchternheit, wenn es um das andere Geschlecht geht, ist "normal", aber ich behaupte bei uns Schüchternen und Sozialphobikern ist es schlimmer.
Diese Jugendherberge hatte so eine Pseudo-Disko. Bis dato etwas völlig Unbekanntes für mich und auch heute kann ich mich damit noch nicht anfreunden. Ich habe es dann trotz der lauten Musik, meiner Ängste, der Selbstzweifel, usw. geschafft sie irgendwie davon zu überzeugen mit mir nach draußen zu kommen. Ein Erfolg? Zweifelsohne. Kam mir damals aber noch nicht so vor. Ich war zu sehr mit der Tatsache beschäftigt, dass ich sie nun vor mir stehen hatte, als damit, was es bedeutete.
Nach einigen Fragen wie "Hast du Haustiere?" stellte sich dann leider eine Gesprächspause ein. Dröhnende Stille breitete sich aus wie dichter Nebel. Und ihr könnt mir die Pistole auf die Brust setzen, ich könnte euch immer noch nicht sagen, was dann noch kam. Irgendwann löste sich die Situation einfach auf. Es lief jedenfalls nicht so toll und ein fließendes Gespräch kam nicht zustande. Vielleicht ein Problem, mit dem viele andere Schüchterne auch zu kämpfen haben(?). Ich hatte es also versaut. Ich habe nicht mal nach ihrer Telefonnummer gefragt. Warum? Keine Ahnung, vermutlich Unsicherheit. Die restlichen anderthalb Jahre gab es kaum mehr als peinliche Blicke. Von meiner Seite, wie es bei ihr aussah weiß ich nicht.(→3)

Worauf ich hinaus will ist: Jahre später erfuhr ich von einem Freund, der irgendwie noch Kontakt mit ihr hatte, dass sie wohl gar nicht so einen schlechten Eindruck von mir bekommen hätte. Ich hatte es scheinbar einfach nur angenommen, weil es mir so vorkam, als wenn ich meine soziale Inkompetenz ausgiebig zur Schau stellte. Das zeigt recht deutlich wie ein Ereignis allein dadurch für uns zu einem negativem Ereignis werden kann, obwohl es das vielleicht nicht ist. Ich möchte sogar noch einen Schritt weiter gehen: So können Ereignisse, die wir für uns selbst als positiv einschätzen würden negativ uminterpretiert werden. Ich würde zum Beispiel niemals sagen, dass sie auf mich einen schlechten Eindruck machte, obwohl sie genauso zurückhaltend war, wie ich es gewesen bin. Daraus folgt nun die Schlussfolgerung: Ich habe das Ereignis negativ interpretiert, indem ich ihr unterstellt habe, dass sie die Situation als negativ empfunden hat. - Es wäre also nicht nur besser, sondern obendrein noch höflicher gewesen, die Situation wenigstens als neutral einzustufen.

Abschließend kann man dazu noch folgende Regel anbringen: Vor, während und nach jeder Situation haben wir die Möglichkeit über positiven und negativen möglichen Ausgang zu entscheiden. Schüchterne, Sozialphobiker und unsichere Menschen allgemein zeichnen sich häufig dadurch aus, dass wir dazu neigen, eher vom Negativem, als vom Positivem auszugehen. Auch hier spielt die, eingangs angesprochene Unsicherheit wieder eine große Rolle: Je unsicherer man ist, desto eher neigt man dazu, eine Situation negativ zu bewerten. Die Unsicherheit veranlasst uns die Aussagen die wir treffen selbst infrage zu stellen, so wie ich es bei meiner Vorstellung in der Gruppe tat. Sie bringt uns dazu Situationen negativ zu bewerten, unabhängig davon, ob sie es waren. Mit ihr steht und fällt ein großer Teil der Schüchternheit.

M.

Im nächsten Teil berichte ich vom Anfang meines Lebens in Braunschweig und warum ich beim Schreiben des ersten Teiles Höllenqualen gelitten habe.

↑1 Ein Nerd ist jemand, der besonders affin im Umgang mit Computern und Technik ist. Inzwischen kann man ja schon fast damit angeben. Während meiner Schulzeit war das noch ein wenig anders.

↑2 Es kommt gelegentlich vor, und das wird sicher der ein oder andere von uns wissen, dass wir - fälschlicherweise - als arrogant wahrgenommen werden.

↑3 Was ich jedoch stark vermute, ist, dass sie auch ganz gut zu uns Schüchternen passen würde. Das ist eine retrospektive Betrachtung und ich mag mich irren, aber ich glaube, dass sie damals auch recht schüchtern war.




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Vorteile der "Vorteile von Schüchternheit"?

Meine Idee, Schüchternheit auch vorteilhaft zu sehen, ist und bleibt umstritten, wie der Artikel über kritische Anmerkungen (Rundbrief 6/12) zeigt. Ich habe die positive Seite von Schüchternheit bisher sehr unschüchtern-überzeugt vertreten, auch weil ich selbst viel mit ihr erreicht habe. Noch mehr, ich hätte vieles nicht erreicht, wenn ich nicht eines Tages meine Stärke entdeckt hätte.
Vielleicht ist meine Art der selbstbewußten Präsentation eher abschreckend als überzeugend. Immer mehr kann ich verstehen, daß andere diesen Gedanken vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebenserfahrung als unrealistisch, unsensibel oder beleidigend empfinden. Ich habe schließlich (im Rundbrief 2/12) selbst beschrieben, was ich empfinde, wenn mir eine Therapiemethode als "Verarschung" vorkommt.

Daher möchte ich diese These etwas genauer behandeln, selbst überprüfen. Was steckt dahinter? Was macht sie mir so wichtig? Wenn sie nur eine Propagandalüge wäre, wäre sie nicht zu halten.
Ich fand diese Punkte:

1. Positive Seiten von Schüchternheit sind auch dann zu finden, wenn man diese loswerden will - um den Weg heraus zu erleichtern. Man muß alles von seiner guten UND von seiner schlechten Seite betrachten. Realistisch eben - damit man auch dessen Änderungen realistisch einschätzen kann. (→1)
Diese Einsicht verdanke ich einer Vorlesung zu Thema Alkoholismus. Der Dozent legte Wert darauf, daß Trinker sich fragten: "Was wird schlechter, wenn ich mit dem Trinken aufhöre?" Diese Frage ist viel ernster als sie klingt - denn sie heißt: "Was könnte ich nach dem Entzug so sehr vermissen, daß ich dafür womöglich wieder zu trinken anfange?" Das Vermißte ist kein Grund zum Weitertrinken - aber man muß einen Plan machen, wie man es ohne Alkohol erreicht. Ohne Alkohol kann z.B. die Gesellschaft in der Trinkrunde fehlen, dann muß man sich dringend einem alkoholfreien Freundeskreis anschließen. Bei Sozialphobie kann es z.B. die Sicherheit vor Mobbing sein.

2. Ein positiver Effekt der Schüchternheit wirkt gesamtgesellschaftlich. Wer mitzählt, wieviele Erfindungen und Fortschritte von Außenseitern gemacht wurden, wird schüchterne Menschen nicht aussortieren, sondern ihre Gedanken für sich nutzen. "Genetiker behaupten sogar, dass psychische Krankheiten für die Evolution des Menschen von entscheidender Bedeutung waren - denn ohne die extremen Verhaltensvarianten und das damit verbundene Potenzial von Männern und Frauen, die anders empfinden, denken und handeln als die Mehrheit, hätte die Menschheit den Affen nicht abgehängt und sich nicht zur Krone der Schöpfung hochselektiert. Durchaus möglich, dass das Rad ohne einen zur völligen Selbstvergessenheit fähigen Asperger-Autisten erst später, wenn überhaupt, erfunden worden wäre." (→2)
Doch was für die Welt gut sein kann, kann trotzdem für den betroffenen Menschen zur Hölle werden. Auch wer stolz ist, daß alle Welt mit "seinen" Rädern fährt, will einfach nur "wie alle normalen Leute" ein normales Leben. Das geht mir oft genauso. Andererseits haben nicht alle "anderen" Menschen ihrer Umwelt einen Fortschritt geschenkt. Und selbst wenn, war es eine Mühe, ihn bekannt zu machen und damit zu überzeugen. Punkt 2 ist also kein überzeugender Grund für Einzelne, ihren eigenen Lebensmut darauf aufzubauen. Er verlangt, daß man selbst eine "große" Erfindung gemacht hat. Und wie wir uns kennen, schätzen wir unsere großen Erfindungen eher klein ein ;-)

3. Wie spricht man sozial Ängstliche so an, daß sie Vertrauen finden, sich ihren Problemen zu stellen und dafür Hilfe anzunehmen? Wie wird das Wort "Krankheit" verstanden, gerade bei psychischen Problemen, die nicht so eindeutig diagnostizier- und heilbar sind wie z.B. ein Beinbruch? Als "Auszeit von den Ansprüchen der Gesellschaft, Anrecht auf eine Kur zur Erholung" - oder als "Stigma, man traut mir nichts mehr zu außer Kindersex und Amoklauf, man schiebt mich aufs Abstellgleis"?
Von diesen Bedenken abhängig müssen unterschiedlichen Menschen unterschiedlich angesprochen werden. Die "positive Seite" zu betonen, ist eine Möglichkeit von vielen, das Bekenntnis zur eigenen Phobie zu erleichtern. Sie sagt: Du bist gut, nur deine Angst ist schlecht. Es müssen aber beide Teilaussagen rüberkommen, um die genannte Gefahr des Schönredens zu vermeiden.

4. Ich benutzte auch den Begriff "Schüchternen-Kultur". Das klingt völlig anders als "Ängste" und meint viel mehr als diese. Diese beiden Begriffe darf ich nicht vermischen.
Die Ängste selbst sind ein schweres Problem, keine Frage. Es läßt sich durch nichts schönreden, wenn auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch die Panik steigt und man bloß deshalb wieder keinen Job bekommt. Doch eine Angst steht nicht im luftleeren Raum, sie hat ihre Auslöse- und Erhaltungsfaktoren. Je früher im Leben ein Mensch eine Sozialphobie entwickelt, desto mehr ist später seine gesamte Persönlichkeit davon beeinflußt. Das läßt sich als "Kultur" bezeichnen, im Sinne von "gesamte Art und Weise der Empfindung und Lebensgestaltung".
Was hängt als "Kultur" mit Angst zusammen? Und wo versteckt sich darin Positives?
Ich finde hierzu
4.1 Eigenschaften, die zum Anlaß oder Auslöser unserer psychischen Probleme wurden, die anderen als Anlaß für Mobbing dienten. Das kann auch etwas völlig Positives sein, was uns bei anderen auf die Abschußliste setzt - wie bei mir die exzentrische Schulleistung: in Mathe eine 1, in Sport eine 4. Na gut, die Sport-4 ist nicht so schön, die Mathe-1 umso mehr. Hätte ich absichtlich Fehler machen sollen, um mich mit einer 3 dem Durchschnitt anzupassen? Und wäre mir das auch in Sport gelungen?
4.2 Eigenschaften, die wir lernen mußten, um unsere psychischen Probleme zu lösen oder ihre Folgen auszugleichen. Dieser "Demosthenes-Effekt" heißt nach einem griechischen Redner, der am Anfang seiner Karriere ein Stotterer war. Dieses Handikap war seine Motivation zu hartem Redetrainig, das ihm noch mehr brachte als nur ein "normales" Sprechen. Gerade auf dem Feld seiner Beeinträchtigung hat er seine größten Erfolge erreicht. Vielleicht hätte ich mit täglichem Training doch in Sport auf die 3 kommen können ;-)
4.3 Nebenwirkungen unserer psychischen Probleme, d.h. Eigenschaften, die wir lernten, während unsere psychischen Probleme uns vom "normalen" Leben fernhielten. Diese "eigenen Wege" können z.B. Hobbys sein, eigene Meinungen, oder Sensibilität für spezielle Themen/Probleme. Das letztere umfaßt sogar die typische Frage "warum ist die Welt so ungerecht zu mir?". Natürlich schließt uns diese Gefühlswelt von der Mehrheit aus und verstärkt unser Scheitern am Wunsch, allgemein anerkannt und beliebt zu werden. Aber auf eine Minderheit der Menschen machen wir einen Eindruck von "endlich ist mal jemand nicht so oberflächlich".

Da mit den Worten "Schüchternheit", "Phobie" etc. nur der Kern des Problems, die Angst, verbunden wird, fehlt mir nun ein Begriff, um die "Kultur" drumherum zu benennen - und damit deutlich zu machen, daß ich nicht die Angst selbst schönreden will.
Naja, am Ende müssen alle selbst entscheiden, welche Teile ihrer Persönlichkeit sie per Therapie verändern und welche sie als positiv annehmen. Egal, wie ihr eure eigene Sozialangst einschätzt - als gut, schlecht, halb-halb oder 75:25 - nutzt alle eure Stärken. Alle. Egal wodurch ihr sie erlernt habt.

Julian / Braunschweig

↑1 Die Bücher von Paul Watzlawick sind hierzu sehr lesenswert.

↑2 Zitat: PM-Magazin April 2013, Seite 37




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Forschungsreise zu den Menschen
Teil 3: Wir sind die Champignons, au lait!

Die Überschrift läßt vermuten, daß es in dieser Folge wieder um Frankreich geht. Das stimmt zwar, aber nicht hauptsächlich. Es geht um Fußball. Genau gesagt geht es um die WM-Endspiele 2006. Noch genauer gesagt geht es überhaupt nicht um Fußball, sondern um das Verhalten, das er bei Menschen auslöst.
Wir erinnern uns: Deutschland hatte im Halbfinale gegen Italien verloren, dann gegen Portugal mit 3:0 den 3. Platz geholt. Einen Tag später sollte Italien im Finale gegen Frankreich spielen - aber erst einmal wurde das Ergebnis der Deutschen groß bejubelt. (→1)

Für mich waren all diese Ergebnisse ein Anlaß, zusammen mit der deutschen Fahne auch noch eine französische an den Besenstiel zu binden. Noch der Abschiedsratschlag meines Bruders - "laß dich nicht von Italienern verprügeln" - dann ging ich in die Innenstadt. Immer mehr Fans strömten auf der zentralen Hauptstraße zusammen. Mit soviel Schwarz-Rot-Gold, wie ich es auch anderswo sehen möchte: bei der Demo, die sich einem Naziaufmarsch in den Weg stellt. (→2)

Den Abend über zählte ich die Parolen, die Fans der Finalteams mir zuriefen, das "Forza Italia" und das "Allez les bleus" der Franzosen - das aber auch die beiden Araber im Pizzakiosk sangen, als sie mich sahen. In dieser Zählung stand es am Ende 10:2 für Frankreich. Deutschland-Fans, die mir sowas wie "Scheiß-Frankreich" zuriefen, brachte ich mit einer Gegenfrage zum Meinungswechsel: "Und wer soll Italien besiegen?" Sofort standen sie auf meiner Seite.

Ich wollte aber nicht nur in den Mittelpunkt der Fanmeile, sondern auch in die Fußgängerzone, wo etwas weniger los war. Ich wußte nicht, daß dort noch eine andere Veranstaltung stattfand, die "Nacht der Kultur", also die marschierenden Sambatrommler vor mir nichts mit Fußballfreude zu tun hatten.
Bei Kulturfreunden steht Frankreich (Italien auch) wegen seiner Küche, Sprache usw. in hohem Ansehen. Es war daher fast zwangsläufig, daß die Doppelfahne Interesse erregte. Nicht lange war ich zwischen dem Kultur-publikum, als ich schon von einer etwas älteren Dame angesprochen wurde. Das Gespräch verlief so: Erfreut: "Schön, Sie haben auch eine französische Fahne. Hat das was zu bedeuten?"
Kämpferisch: "Ja! Italien hat Deutschland besiegt, und irgendwer muß Italien besiegen. Und deshalb gewinnt morgen: Frankreich!"
Etwas schockiert: "Meinen Sie das wirklich?"
Durch die Frage fiel die gesamte Feier-Jubel-Mitmach-Stimmung von mir ab. So erleichtert wie spontan konnte ich antworten: "Ach, ist nur Fußball!"

Weil es "nur Fußball" war, war es auch nicht wirklich schlimm, daß im Finale dann Italien gewann. Nicht wirklich schlimm? Belanglos war es aber auch nicht - wie sich vier Monate später zeigte, als ich aus meiner Küche erzählte:
"Manchmal mach ich mir selber eine Pizza."
"Oh, bist du Italien-Fan?"
"Darf man das inzwischen schon wieder zugeben?"

Julian / Braunschweig

↑1 Wir erinnern uns noch mehr: Der 3. Platz 2006 mit Klinsmann wurde stärker bejubelt als der 2. Platz 2002 mit Völler.

↑2 Dieser Wunsch dürfte hier und da immer noch Irritationen auslösen. Aber dazu besteht kein Anlaß: Selbstverständlich kann/darf/muß unsere Fahne gegen Rechts gezeigt werden. Deutschland gehört nicht denen, die es schonmal zerstört haben. Deutschland gehört denen, die es lieben. Und auch dieser Satz ist nichts Schlimmes: Dazu muß man nicht dort geboren sein. Man kann auch ein Land lieben, in das man freiwillig eingewandert ist.




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zuletzt am 16.07.2023 um 12 Uhr 26