Selbsthilfe bei Schüchternheit und sozialer Phobie

 

Rundbrief Dezember 2013

Titelseite

Inhalt:
   - "Einsame für Einsame" an Weihnachten
   - Zwei Fragen
   - Gemischte Bilanz nach dem Europäischen Depressionstag
   - Mit Scheu, Scham und Western-Hut, Spezial
   - Forschungsreise zu den Menschen, Teil 6

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ZITAT

"Die Ärzte sagten mir damals, ich solle meine Erwartungen herunterschrauben. Das war ein schlechter Rat. Große Ziele zu haben, das hat mir geholfen."

Elyn Saks, amerikanische Psychologin, seit 30 Jahren Selbstbetroffene einer Psychose und heute Leiterin eines psychologischen Forschungsinstituts, in der "Zeit" (46/2013)



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"Einsame für Einsame" an Weihnachten

ZUSAMMENFASSUNG
   - Viele sitzen an Weihnachten allein zuhause.
   - Daher macht etwas für andere Einsame.
   - Es sind viele Möglichkeiten denkbar.


Jedes Jahr dasselbe: Die anderen haben ihre Familien und Freunde, mit denen sie gemeinsam einen Tannenbaum anzünden und einen Berg Geschenke austauschen. Nur "wieder ich" habe niemanden, sitze allein in der dunklen Wohnung - wozu bunte Lichter, "bloß vom Licht wirds ja doch nicht besser". Eine Lösung ist für Selbsthilfe-gewohnte naheliegend: Menschen, die selbst einsam sind, tun etwas für andere, die auch einsam sind. Zum Beispiel:

1. An Heiligabend 2011 initiierte Friederike aus der Gruppe Uelzen eine Schweigewache für 2 Stunden (20-22 Uhr) in der Fußgängerzone. In der ersten Stunde waren sechs Personen anwesend, wir standen schweigend mit Kerzen auf einem Platz. Ein Plakat auf dem Boden wies es als Kundgebung für Frieden und Menschlichkeit aus, es war die einzige Erklärung für Passanten. Frieden und Menschlichkeit waren zwischen den Teilnehmen-den deutlich zu spüren, z.B. beim gegenseitigen Feuergeben, nachdem die Kerze im Wind erlosch.

2. Auch meine Idee vom letzten Jahr, Fremde mit einer symbolischen Schokotafel zu beschenken, läßt sich zu einer "offiziellen" Gruppenaktion ausbauen. Geht durch die Stadt, schaut nach anderen Leuten, sprecht sie an, beschenkt sie. Ich denke wie letztes Jahr an diejenigen, die arbeiten, während alle anderen in der Kirche oder am Tannenbaum sind:
- Polizei, Feuerwehr, Krankenhaus
- Sicherheitsleute, Pförtner
- Lokführer, Busfahrer, Schaffner
- Pfarrer (muß ja auch an Weihnachten arbeiten)
Oder die Leute, die trotzdem einsam auf der Straße sind und/oder niemanden haben. Schaut euch um. Auch am Heiligabend zur besten Tannenbaum-Uhrzeit ist man nicht ganz allein.

3. Euch fällt noch viel mehr ein.

Solche Aktionen lassen sich auch größer organisieren: Vielleicht läßt sich das auch mit einem Zeitungsaufruf verbinden, in dem diese Aktion angekündigt wird. Das Thema "Einsam an Weihnachten" ist für Medien interessant.
Achtet darauf, ob eure Aktion evtl. genehmigt werden muß (auf Bahnhöfen ist das "Verteilen von Werbematerial" genehmigungspflichtig). Aber wenn ihr keine Spenden sammelt oder Flugblätter verteilt, sollte es kein Problem sein. (In der Braunschweiger Innenstadt ist die Rechtslage laut Ordnungsamt genau so.)

Natürlich erfordern einige dieser Aktionen viel Angstüberwindung, aber dafür sind wir doch in Sozialphobie-Gruppen. Nur Mut! Es ist ungewohnt, aber besser als allein den an anderen beim Feiern zuzusehen.

Julian / Braunschweig


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Zwei Fragen

1. Ich höre von vielen Leuten, daß sie im Berufs- oder Lernstreß stecken, und daß deshalb regelmäßiger Kontakt nicht zustandekommt. Gerade bei den interessantesten Leuten ist das ein Problem: Wie viele Freundschaften könnte ich haben mit Leuten, die stattdessen "in Arbeit ersticken". Ich möchte fragen, ob diese Arbeit aus dem selben Grund gemacht wird wie bei mir: aus der Erfahrung heraus, daß sie für ihren Lebenserfolg einfach 200 Prozent geben müssen - um 50 Prozent der Karriere zu schaffen. Oder mit dem Gedanken: Lieber überstreßt als von "der Gesellschaft" aussortiert. Wie geht es euch?

2. Wieweit ist das eigene Erleben von Sozialphobie davon beeinflußt, in welchem Alter diese begann? Soll heißen: wie viel Lebenserfahrung man vorher mit einem "normalen" Leben machen durfte? Oder - andererseits - wie "normal" sich Sozialphobie anfühlt, etwa "das war schon immer so"? Hängt es davon ab, wer Schüchternheit als Krankheit sieht und wer als persönliche Eigenschaft, die nun mal so ist?

Julian / Braunschweig


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Gemischte Bilanz nach dem Europäischen Depressionstag

ZUSAMMENFASSUNG
   - Depressionen sind durch massive Aufklärungskampagnen in der Öffentlichkeit 'gesellschaftsfähiger' geworden und erfahren größere Beachtung und Verständnis.
   - Die Tabuisierung belastet weiterhin vor allem Erkrankte in der Arbeitswelt, in der seelische Tiefen weniger ernst genommen werden als sichtbar körperliche Gebrechen.
   - Die Hilfskonstruktion des 'BurnOut' verdrängt einen dramatischen Anstieg psychischen Leids, der nicht zuletzt durch Schnelllebigkeit und Ignoranz im Alltag befördert wird.


Zurückblickend auf den Europäischen Depressionstag am 01. Oktober 2013 zieht die Selbsthilfegruppe für Zwänge, Ängste und Depressionen im Landkreis Konstanz ein gemischtes Fazit.

Zweifelsohne wurde in der Entstigmatisierung von Depressionen und ihrer Betroffenen in den letzten Jahren im Vergleich zu anderen psychischen Erkrankungen ein erheblicher Fortschritt erzielt. Durch zahlreiche mediale Berichterstattung, aber auch die öffentliche Bereitschaft von prominenten Persönlichkeiten, mit ihrer Geschichte ins Rampenlicht zu treten, ist die Aufmerksamkeit auf die Depression gestiegen und die Berührungsängste wurden weniger.

Insgesamt sind Depressionen als ein Krankheitsbild, das viele Menschen weltweit in ihren Symptomen annähernd gut nachvollziehen können, nicht zuletzt auch aufgrund der aus meiner Sicht als schwierig zu betrachtenden Verharmlosung über die Schiene von Erschöpfungssyndromen und "BurnOut" durchaus "gesellschaftsfähig" geworden. Doch der Schein trügt nicht nur oftmals im persönlichen Umfeld von Betroffenen, sondern ganz besonders auch weiterhin in der Arbeitswelt.

Nicht wenige Erkrankte klagen über eine Tabuisierung und fühlen sich von Arbeitgebern und Mitarbeitern nicht ernst genommen. Wenngleich Depressionen mittlerweile in vielen Fällen gut therapiert werden können und Behandlungserfolge oftmals auch nachhaltigen Charakter besitzen, bleibt die Anstrengung, sie zu bekämpfen, ein langwieriger Prozess, der weder mit einem gebrochenen Bein oder einem verstauchten Ellenbogen zu vergleichen ist. Und trotzdem wird von vielen Betroffenen und ihrer Umwelt ein Funktionieren verlangt, das bei körperlichen Gebrechen in dieser Form ausgeschlossen wäre.

In unseren Selbsthilfegruppen ist daher immer häufiger die Frage nach einem selbstbewussten Umgang mit der eigenen Erkrankung ein Hauptthema. Was in der Psychotherapie kaum angesprochen wird, das ist die individuell ganz unterschiedliche und für den Einzelnen jeweils neu zu bestimmende Haltung zum eigenen Tief. Wer versucht, sich mit der Hilfskonstruktion des "Ausgebranntseins" zu suggerieren, dass eine waschechte Depression nur ein Knick in der Leistungskurve ist, der verkennt gegenüber sich selbst und den Anforderungen des Alltags die Dimension einer Krankheit, die mehr ist.

Hinter ihr stecken zumeist nicht nur einige Tage Sinnkrise, sondern die Depression ist heute bei immer mehr Menschen ein wichtiges Warnsignal. Sie macht darauf aufmerksam, dass mit Emotionen und Herausforderungen unzureichend umgegangen wird. Nicht selten ist das im aktuellen Kontext beruflicher Stress oder der Drang zu einer Lebensführung, die keine eindeutigen Grenzen zwischen Arbeit und Auszeit mehr kennt. Aber Depressionen sind auch ein psychischer Hilferuf, wenn eine angemessene Reaktion auf einschneidende Erlebnisse ausbleibt. Ob Trauer, Krankheit oder Misserfolg - prägende Ereignisse und ihre seelischen Konsequenzen brauchen Raum und Zeit, um kanalisiert und bearbeitet zu werden.

In diesem Sinne ist ein Anstieg der Depressionserkrankungen, zahlenmäßig durch verbesserte Diagnosemöglichkeiten bereinigt, auch ein Indiz und eine Warnung zugleich: Eine Gesellschaft, die weniger auf sich achtet und den Anspruch an sich selbst stellt, Schnelllebigkeit und Ignoranz zu einem attraktiven Markenkern zu machen, wird noch viele Depressionstage benötigen, um der seelischen Gesundheit den Stellenwert beizumessen, die sie sozial, wirtschaftlich und für jeden ganz persönlich braucht.

Dennis Riehle,
Gruppenleiter Depressionen Konstanz,
ehrenamtlicher Berater der Deutschen DepressionsLiga e.V.


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Mit Scheu, Scham und Western-Hut
Erlebnisberichte eines Sozialphobikers in freier Wildbahn

Spezial: Schweigen ist Katzengold

Inspiriert durch Julians »Schüchterne Weihnacht« möchte ich hier nun berichten, was mir vor einigen Jahren zur Weihnachtszeit passierte:
Ich muss wohl um die 16 Jahre alt gewesen sein. Damals kannte ich durch einen Chatroom ein Mädel aus Braunschweig, wir hatten uns zu dieser Zeit noch nie persönlich gesehen, nur hin und wieder gechattet. Als wir an einem Tag wieder geschrieben hatten begab es sich, dass wir am selben Abend beide auf dem Weihnachtsmarkt sein würden. Ich konnte es nicht überdenken und daher machten wir ein Treffen für diesen Abend aus.(→1)

Zur vereinbarten Zeit am vereinbarten Treffpunkt kam sie dann mit einer Freundin. Mit dieser war sie planmäßig den Abend verabredet. Nach einer kurzen Begrüßung verabschiedete sich besagte Freundin jedoch schneller als wir gucken konnten. Sie löste sich buchstäblich in Luft auf. Ich habe natürlich einen Verdacht warum, aber dem Mädel hat das überhaupt nicht gepasst. Anstatt die Gelegenheit zu nutzen gemeinsam allein über den Weihnachtsmarkt zu schlendern drängte sie mich dazu nach ihrer Freundin zu suchen.(→2) So ging es dann los, sie vorweg und ich immer ein paar Schritte hinterher, in einem Tempo, das auf einem Weihnachtsmarkt eher unpraktisch ist. Mehr als einmal muss ich irgendwelche Leute angerempelt, geschubst und beiseite gedrängt haben. Eine Tätigkeit, die meine vollste Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Ich habe meine Probleme mit Körperkontakt und normalerweise vermeide ich es mich mit ausgefahrenen Ellenbogen durch eine Menschenmasse zu kämpfen.
Nachdem wir dann zwei- oder dreimal um den Dom gepoltert waren, blieb sie plötzlich stehen - mitten auf einem vollen Platz. Wir müssen wohl schon so 30 Minuten unterwegs gewesen sein, aber es fühlte sich an wie zwei Stunden. In dieser Zeit habe ich kaum ein Wort gesprochen, wie gesagt war ich voll damit beschäftigt mich durch die Menschen zu kämpfen. Sie hat jedoch auch nicht wirklich viel gesprochen.
Dann standen wir da, sie dreht sich zu mir um: »Du sprichst wohl nicht viel, was?«
Gedacht habe ich: Was in aller Welt soll das jetzt werden? Du rennst hier die ganze Zeit rum um deine Freundin zu suchen, weil du zu feige bist mit mir allein Zeit zu verbringen, ich bin stocknüchtern durchgeschwitzt vor Angst und Eile und dann soll ich mich noch mit dir unterhalten!?
Und hier ist was ich gesagt habe: »Nein.«(→3)
»Kann ich ja gar nicht leiden.«

Der Rest des Abends verlief bedeutungslos. Wir haben dann noch einen Glühwein getrunken und dann wurde sie von ihrem Vater abgeholt. Eine schüchterne Umarmung, bei der sie die Initiative ergriff (natürlich) und wir haben uns nie wieder gesehen. Nach einiger Zeit dann auch nicht mehr online.

Das kennen neben mir sicher auch andere, oder? Gesagt zu bekommen, man würde zu wenig reden.
Spricht unser gegenüber ebenfalls wenig bis gar nicht, so entsteht Stille. Oft eine nicht besonders angenehme Situation. Doch Stille beschränkt sich natürlich nicht nur auf Schüchterne. In Quentin Tarantinos Film »Pulp Fiction« wird diese Thematik konkret aufgegriffen:
»Hassen Sie das nicht auch? [...] Unbehagliches Schweigen. Warum müssen wir immer über irgendwelchen Blödsinn plappern?, damit wir uns wohlfühlen? [...] Man weiß immer, dass man jemanden ganz Besonderen gefunden hat, wenn man einfach mal für 'n Augenblick die Schnauze halten und zusammen schweigen kann.« - Mia Wallace (Uma Thurman)
Im englischen gibt es sogar eine festgelegte Bezeichnung dafür: »Awkward Silence«.

Der Zustand der Stille wird erst dann unangenehm empfunden, wenn man das Gefühl hat etwas sagen zu müssen, aber nicht weiß was oder sich nicht traut etwas zu sagen. Das bedeutet, dass wir dieses Gefühl ausschließlich in sozialen Situationen bekommen, in denen es entweder üblich oder notwendig ist zu reden. Etwa bei einem Kennenlernen, einem Vortrag oder einem netten Spaziergang über den Weihnachtsmarkt.
Eine Universallösung für dieses Problem gibt es nicht, aber man kann sich einiger Tricks bedienen um das Schweigen entweder zu durchbrechen, oder diesem vorzubeugen. Beispielsweise kann man beliebige Objekte in Sichtweite verwenden um daraus ein Gesprächsthema zu formen. Aber perfekt funktioniert das auch nicht. Eine Sache kann ich jedoch noch teilen: Wenn man gesagt bekommt, dass man zu wenig redet, dann nur von Leuten die selbst kaum etwas sagen. Klare Sache, denn wer selber gern und viel schnackt, der freut sich über jeden der ihm zuhört. Und umgekehrt freut sich derjenige, der wenig spricht, wenn er sich mal zurücklehnen und zuhören kann. Ganz ohne den Drang zu verspüren dringend ein paar kluge Worte über die Lippen zu bekommen.

↑1 Wäre das nicht so spontan gewesen, hätte ich vermutlich nie zugesagt. So aber brauchte ich nicht einmal Mut. Im Gegenteil wäre der auch kontraproduktiv gewesen: Es hätte Mut gekostet hier abzusagen. Es war außerdem eine gute Gelegenheit mich von meinen Eltern abzuseilen, mit denen ich dort gewesen sein würde. (Ist das die richtige Zeitform?)

↑2 Nun muss man wissen: Der Braunschweiger Weihnachtsmarkt ist nicht unbedingt klein und immer gut besucht. Dort eine einzelne, sich bewegende Person zu finden ist als würde man Heu in einem Heuhaufen suchen. Selbst die sprichwörtliche Nadel wäre einfacher auszumachen.

↑3 Das war keine Lüge. Ich rede nicht viel. Vielen Schüchternen dürfte es ähnlich gehen.




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Forschungsreise zu den Menschen
Teil 6: Wo die Brötchenkruste kracht

ZUSAMMENFASSUNG
   - Eine große Demo gegen rechts habe ich boykottiert.
   - Ein einsamer Mensch setzte nebenbei ein "Zeichen".
   - Er machte mehr Eindruck als 2000 Demonstranten.


Als ich noch als Briefträger arbeitete, wohnte in meinem Bezirk eine jüdische Familie. Eigentlich eine Familie wie jede andere - aber wer 13 Jahre in eine deutsche Schule gegangen ist, muß sich diese Tatsache erst wieder bewußt machen. Geschichtswissen ist sehr wichtig, wenn man im Wahlkampf die Abkürzung NPD liest. Es ist aber hinderlich, wenn man einen ganz normalen Brief bei einer ganz normalen Familie zustellen soll.

Am 4. Juni 2011 fand in Braunschweig eine Neonazi-Demo statt. "Selbstverständlich" auch eine große Gegendemo mit Reden und viel Lokalprominenz. Der geplante Neonazi-Marsch durch die Innenstadt konnte von der Stadtverwaltung mit juristischen Finten verhindert, auf eine Kundgebung auf dem hintersten Bahnhofsparkplatz verkleinert werden. (→1) Ich hätte an der Gegendemo teilnehmen, mir die Arbeit dazu passend einteilen können - tat es aber nicht. Stattdessen machte ich meine Briefträgerarbeit.

Den bei offensivem Antifaschismus kommen mir unangenehme Erinnerungen hoch: an eine Vergangen-heitsvermittlung, die zwar den mündigen Bürger predigt, aber dessen kritische Fragen mit Dogmen und Tabus abblockt. Kann man Zivilcourage in der Schule lernen, wenn dort jede "unbequeme" Meinung aufs Zeugnis durchschlagen kann? Unbequem ist bereits, wer die Hochmoral auf ihre Widersprüche und Lebenslügen hinweist. (→2)

Aber ich geb zu, daß mein Problem mit guten Dingen und Werbung für gute Dinge ein anderes ist: Wo waren die Mahner und Betroffenen, als ich mal Hilfe brauchte? Oder wenn nichtjüdisch-weiß-männliche Deutsche kollektiv in die Täterschublade sortiert werden? Liebe Gutmenschen, legt die Hand aufs Herz und sprecht mir nach: "Gewalt ist auch dann widerlich, wenn die Täter keine Neonazis und die Opfer keine Frauen sind."

Am Ende der Posttour, in einer einsamen Wohnstraße, kam ich mit dem Zustellfahrrad aus einer Grundstückseinfahrt. Da sah ich auf der anderen Straßenseite, das ist doch - richtig, der Vater der erwähnten Familie. Es war das einzige Mal, daß ich ihn in der Öffentlichkeit mit Kippa (→3) gesehen habe - eine schwarze mit aufgesticktem hebräischen Text.
Ich weiß nicht, ob er damit ein Zeichen setzen wollte. Vielleicht wollte er überhaupt nicht demonstrieren, sondern sich einfach nur zu seinem Glauben bekennen. Auch konnte ich nicht wissen, welche Meinung er tatsächlich von den beiden Demos hatte.
Und trotzdem: Dieses stille, vollständig friedliche Bild. Keine Aggression, keine Moralheuchelei. Niemand stand neben mir, der eine "politisch korrekte" Meinung von mir erwartete. Gerade diese Stille und Einsamkeit beeindruckte mehr als es die Kampfparolen von 2000 Gegendemonstranten je könnte.

Was hätte ich getan, wenn ich in dem Moment Zeuge von antisemitischer Gewalt geworden wäre? Da kann ich nur ehrlich schreiben: Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich schon öfter an eigenen guten Vorsätzen gescheitert bin. Daher kann ich nicht einfach behaupten, daß ich "natürlich" geholfen hätte. Ich würde das - siehe oben - eh nur den wenigsten Menschen glauben. (→4)
Es ist noch die Frage, ob er in dem Moment ein Risiko einging. Falls ja - war sein Bekenntnis ein tatsächlich mutiges "Gesichtzeigen". Falls nein - ist doch gut, denn dann war alles so, wie es sein sollte.

So habe ich doch noch ein Vorbild gefunden.

Julian / Braunschweig

P.S.:
Was hat das mit der Brötchenkruste zu tun? Mit der Zeit vor dem Briefkasten der Familie nannte ich Israel irgendwann "das Land, wo die Brötchenkruste kracht". Ist halt mein ganz spezieller Humor, um die Situation zu erleichtern. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, ich war nie in Israel. Aber was ich weiß, und was der Spruch ausdrücken soll: Auch dort wohnen ganz normale Leute, die es nicht verdient haben, daß man bei ihrem Land nur an Gewalt und intolerante Extremisten denkt. Und überhaupt: Brot ist Leben. Krieg ist Tod.


↑1 Um die Nazidemo herum stand eine Tausendschaft Polizisten. Offiziell sollten sie die Gegendemonstranten von den Neonazis fernhalten, in Wirklichkeit versteckten sie die Nazidemo vor der Welt. Den Erfolg kann man festhalten! Wir sind gegen Rechts nicht hilflos!

↑2 Ältere kennen dieses Gefühl aus dem Konfirmandenunterricht, ehemalige DDR-Bürger aus dem Schulfach "Staatsbürgerkunde".

↑3 die kleine jüdische Kopfbedeckung

↑4 Ich wünsche mir von der Antifa öfter solche Sätze: "Ich wehre den Anfängen, weil ich unter dem Gleichschaltungsdruck einer Diktatur genauso schnell umkippen würde wie meine Großeltern." - "Ich bin Antifaschist, denn wer sein Land liebt, schützt es vor Extremismus." - "Ich bin Antifaschist für meinen Großonkel, der im Januar 45 neben einer schlesischen Landstraße erfror." Das wäre allen gegenüber ehrlich.




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zuletzt am 16.07.2023 um 12 Uhr 26